Dokumentation „She Chef“: Wanderjahre in der Sterneküche - WELT (2023)

Dokumentation „She Chef“: Wanderjahre in der Sterneküche - WELT (1)

Die Vorbereitungen für die Sommersaison laufen schon seit Februar. Als sie den Videoanruf aus Deutschland entgegennimmt, um über den neuen Film zu sprechen, in dem sie die Hauptrolle spielt, ist Agnes Karrasch gerade damit beschäftigt, ein Gericht zu optimieren, das Teil des neuen 18-Gänge-Menüs werden soll. Ihr Chef hatte die Idee, Variationen vom Kabeljau anzubieten, darunter die Leber und einen Chip von der Blase. Herzstück des Gangs soll eine Praline mit leichtem Blauschimmer werden, die das Aussehen und die Konsistenz des Fischauges nachahmt. „An der Farbe muss ich noch arbeiten“, sagt Karrasch, „aber bei der Form bin schon fast da angekommen, wo ich hinwill.“

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Die 30-Jährige lebt in Tórshavn und arbeitet im „Koks“, einem Zwei-Sterne-Restaurant auf den Färöern, das vom US-Magazin „New Yorker“ als „abgelegenste Foodie-Destination der Welt“ bezeichnet wurde (der Name des Lokals bezieht sich nicht auf eine verbotene Substanz, sondern steht auf Färingisch für einen „Flirt“). Zur Überbrückung einer längeren Umbauphase schlägt das Team von Chefkoch Poul Ziska zwei Sommer lang an einem noch abgelegeneren Ort auf: in Ilimanaq, einer Siedlung mit rund 50 Einwohnern an der 3000 Kilometer entfernten Diskobucht im Westen Grönlands.

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Mit Blick auf die Eisberge, die durch den Fjord aufs offene Meer treiben, wird dort ab Juni ein Menü serviert, für das ausschließlich arktische Zutaten verwendet werden. Für den zweiten Sommer wollte Ziska eine komplett neue Speisenfolge. Nur ein Gang aus der vergangenen Saison bleibe erhalten, erzählt Karrasch, weil er sich kaum verbessern lasse: ein Schneehuhnflügel mit einer klumpigen Salsa, für die halbverdaute Beeren aus dem Magen des Vogels geräuchert werden. „Dazu kommt Lardo vom grönländischen Rentier, das ist eine irre Kombination.“

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Im „Koks“ wurde Karrasch zur Sous-Chefin befördert, es war die letzte Station einer Wanderschaft, in deren Verlauf sie Praktika in einigen der besten Starkoch Europas absolvierte. Nach einer Ausbildung im Wiener „Steirereck“ war sie im „Vendôme“ in Bergisch-Gladbach und im „Disfrutar“ in Barcelona tätig. Zweieinhalb Jahre lang haben die Filmemacher Gereon Wetzel und Melanie Liebheit die junge Köchin aus Oberbayern für die Dokumentation „She Chef“ begleitet, die ab 18. Mai in ausgewählten Kinos zu sehen ist.

Überraschender Perspektivwechsel

Indem er nicht den arrivierten Vendôme in den Mittelpunkt stellt, sondern die wissbegierige Praktikantin, gelingt dem Film ein überraschender Perspektivwechsel. Der Zuschauer erlebt die minutiös getakteten Abläufe in einem Sternerestaurant aus dem Blickwinkel eines Talents, das noch am Anfang seiner Laufbahn steht. Dabei ist es kein Zufall, dass die Protagonistin auf ihren drei Stationen drei besonders elaborierte Küchenstile kennenlernt, die sich klar voneinander unterscheiden: die üppige, französisch geprägte Klassik im „Vendôme“, die iberische Molekular- und Sphärenküche im „Disfrutar“ und schließlich die naturverbundene New Nordic Cuisine im „Koks“.

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„Ich hatte eine ziemlich klare Vorstellung davon, was ich während meiner Wanderjahre machen wollte“, erinnert sich Karrasch. „Die Idee war, maximale Kontraste zu erleben.“ Im Film wird deutlich, dass ihr der Purismus des nordischen Stils am meisten liegt, da die Selbstbeschränkung die Fähigkeiten des Kochs und die Qualität der Produkte in ihren Augen am besten zur Geltung bringt. „Wenn ich ein schönes Kleid anhabe, dann brauche ich nicht auch noch eine Krone aufzusetzen.“

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In Spielfilmen dienen Restaurantküchen häufig als Kulisse für beschauliches Wohlfühlkino, in dem das Kochen vor allem der Selbstfindung dient, wie zuletzt in „Der Geschmack der kleinen Dinge“, in dem Gérard Depardieu einen ausgebrannten Spitzenkoch spielt, der sich in Japan auf die Suche nach dem Ursprung seiner Leidenschaft macht. In TV-Formaten wie „Kitchen Impossible“ wird viel geflucht, und die Musik muss knallen. Die erfolgreiche Netflix-Serie „Chef’s Table“ neigt dazu, ihre Hauptfiguren zu verschrobenen Genies zu verklären, damit das Publikum am Ball bleibt. „She Chef“ verzichtet dagegen auf Knalleffekte und seziert stattdessen behutsam die hoch konzentrierte Arbeitsatmosphäre und den Detailfanatismus in der High-End-Gastronomie.

Anfängliches Zaudern

Bei den Dreharbeiten hatte Karrasch es durchweg mit Chefköchen zu tun, die den Film unterstützten, weil sie die Herangehensweise gut fanden. Am Ende jeder Station erhält sie ein persönliches Feedback auf ihre Arbeit, das womöglich weniger ausführlich ausgefallen wäre, wenn die Kamera nicht dabei gewesen wäre. Sie selbst hat sich lange gegen das Projekt gesträubt. Die Idee habe schon im Raum gestanden, als sie noch in die Lehre gegangen sei, berichtet Karasch. „Als Auszubildende konnte ich mir aber nicht vorstellen, mit einem eigenen Filmteam in die Küche zu kommen.“

Doch irgendwann habe sie sich „El Bulli – Cooking in Progress“ angeschaut, eine Dokumentation über das Foodlabor des katalanischen Superstars Ferran Adrià. Sie sei davon fasziniert gewesen, und dann habe sich herausgestellt, dass der Regisseur Gereon Wetzel einer der beiden Filmemacher war, die sie auf ihrem Weg begleiten wollten. „Mit ihm habe ich mich sofort wohlgefühlt, weil ich gemerkt habe, dass es ihm nicht darum geht, irgendwas aufzubauschen oder zu inszenieren.“

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Stattdessen agiert die Kamera als stiller Beobachter – bei der Einweisung in die umständliche Zubereitung von Pesto-Sphären, bei den Zigarettenpausen am Lieferanteneingang, bei der Personalversammlung, als das Restaurant in Barcelona von einem Tag auf den anderen in den Lockdown gehen und seine verunsicherten Mitarbeiter nach Hause schicken muss. Und später beim Muschelsammeln in einer malerischen Bucht am Nordatlantik.

Für Karrasch war von Anfang an klar, dass sie sich auf einen Weg eingelassen hat, der mit Entbehrungen verbunden ist. Im Film bringt sie die mangelnde Balance zwischen Arbeit und Freizeit, die in der Spitzenküche vorherrscht, bei einem Gespräch mit einem Weggefährten auf den Punkt: „Du gehst in ein normales Restaurant und hast Achtstundentage, aber dann bist du kulinarisch einfach deprimiert. Oder du gehst in die Sterneküche und fühlst dich geil, aber dein sonstiges Leben existiert halt nicht.“

Auf Praktikanten angewiesen

„She Chef“ kommt zu einem Zeitpunkt ins Kino, an dem viel über ausbeuterische Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnisse in der Spitzengastronomie diskutiert wird. Karrasch kennt die Geschichten von Praktikanten nur zu gut, die zwei Monate lang nur Kräuter zupfen durften. „Ich wäre da nach einer Woche rausmarschiert“, sagt sie. Anderseits seien die meisten Sternehäuser auf Praktikanten angewiesen, weil so viele Handgriffe zu erledigen seien, dass der Menüpreis sonst extrem nach oben gehen würde. „Der Lohn eines Praktikanten ist das Wissen, das er vor Ort erwirbt.“

Inzwischen gehört zu ihren Aufgaben, selbst Praktikanten einzuarbeiten, die aus aller Welt ins „Koks“ kommen, um die kompromisslose Küche von Poul Ziska kennenzulernen. Denen erklärt sie dann erst einmal, dass sie das Wort „Chef“ weglassen und sie beim Vornamen anreden sollen. Die Praktikanten bekämen zwar kein Geld, aber Mahlzeiten und Unterkunft. „Und wir versuchen, die Leute so einzusetzen, dass sie möglichst viel mitbekommen.“

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Auf die klassische Bewerbungsgesprächsfrage, wo sie sich in fünf Jahren sieht, antwortet Karrasch, dass sie gemeinsam mit ihrem Freund, den sie in der winzigen Küche des „Koks“ kennengelernt hat, irgendwann ein eigenes Restaurant eröffnen möchte, vielleicht in den Alpen, vielleicht auch am Meer, auf jeden Fall in einer Gegend, in der sie mit einer anderen Produktvielfalt arbeiten kann als auf den kargen Färöern.

Im Augenblick fühlt sie sich da sehr wohl, wo sie angekommen ist. Ihr Arbeitgeber hat keinerlei Hang zu Star-Allüren, und als sie zum ersten Mal mit dem Boot zu der Lodge in Grönland gebracht wurde, in der das „Koks“ sein Pop-up-Lokal betreibt, musste sie vor Rührung weinen, so schön war die arktische Landschaft. „Es ist ein absoluter Traumjob“, sagt sie. Und der besteht momentan eben darin, das Auge des Kabeljaus nachzubauen. „Es wäre cool, wenn die Hülle einen gewissen Widerstand aufbaut und dann aufploppt.“ Auch am Geschmack feilt Agnes Karrasch noch herum: „Er soll schon ein bisschen edgy sein, aber nicht so krass, dass man Angst vor dem nächsten Gang bekommt.“

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Author: Nathanael Baumbach

Last Updated: 04/12/2023

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